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starre Ordnung - zufällige Ansammlung

Dr. Justus Jonas

Für das Künstlerhaus Bremen konstruiert Alke Reeh 1993 ein wandgroßes Kastenobjekt aus Holz und Glas, das sie in der Mitte des Ausstellungsraums aufbaut. In seiner materialbelassenen Klarheit korrespondiert es mit der nüchternen Funktionalität des ehemaligen Industriegebäudes, in dem es sich zeigt, aber sich diesem zugleich selbstbewusst entgegenstellt. Schon der ambivalente Titel starre Ordnung – zufällige Anordnung, der sowohl die Ausstellung als auch das Objekt selbst benennt, verweist auf die Janusgesichtigkeit des möbelartigen Gebildes – Schrank und Schranke zugleich - welches den langestreckten Hallenraum in nahezu gleichgroßeälften teilt. Zu den Seiten hin lässt es Besuchern gerade so viel Platz, die installierte Barriere zu passieren und es von der einen oder anderen Seite, niemals jedoch gleichzeitig in Augenschein zu nehmen. So hat der Schrank, um bei dem vorläufigen Begriff zu bleiben, zwei getrennte Schauseiten, beidseitig verglaste Fächersysteme, die für zwei verschiedene Ordnungen stehen: ein regelmäßiges Raster mit jeweils identisch bemessenen Fächern und eine gleichsam flexible Ordnung aus unterschiedlich breiten und tiefen, mal horizontal mal vertikal ausgerichteten Räumen. Beide Ordnungen stehen Rücken an Rücken zueinander ähnlich den verschiedenen Seiten einer Münze. Weder ist die Anzahl der Fächer auf beiden Seiten gleich - im einen Fall sind es 63, im anderen 54 Fächer - noch sind sie auf ein proportionales Verhältnis zur Gesamtfläche des Körpers hin berechnet. Die Fächer gliedern und strukturieren die Leere durch ein rechtwinkliges Gefüge benachbarter Einzelkammern, in denen der Raum einmal eher komprimiert, ein anderes Mal ausgedehnt erscheint. Gleichförmige Repetition (starre Ordnung) und rhythmische Komposition (zufällige Ansammlung) erzeugen eine Dualität harmonischer Ausgewogenheit. Vorder- und Rückseite bilden in ihren unterschiedlichen Systemen Ordnungen sui generis und repräsentieren damit eine je eigene Idealität.

Man tut sich offenkundig schwer damit, für dieses Ausstellungsobjekt einen geeigneten (Gattungs-) Begriff zu finden. Als skulpturale Installation betrachtet ist die Arbeit von minimalistischer Kühle bzw. Sachlichkeit und alles Subjektive durch handwerkliche Präzision ersetzt. Das Objekt ist gebaut, wie ein Möbel konstruiert ist. Und doch besitzt es ebenso auch eine bildliche Anmutung. Die moderne Kunstgeschichte kennt eine große Anzahl Vielfeldbilder. So zeigt die Fächeraufteilung zum einen die Nähe zu klassischen De Stijl-Kompositionen Mondrians, Vantongerloos oder Van Doesburgs, zumal die Verschattungen die Fächer unterschiedlich hell erscheinen lassen, während das starre Raster auf der gegenüberliegenden Seite möglicherweise an die geometrischen Kastenreliefs von Jan Schoonhoven erinnert.

Die Verglasung verleiht dem Objekt den Charakter einer Vitrine. Gewöhnlich dienen solche Schaukästen der Aufbewahrung von Gegenständen, Zeugnissen, Dokumenten bzw. im Bereich musealer Sammlungen der Präsentation von Kunst- oder Naturobjekten. Sie sollen möglichst schlicht und unauffällig sein, die Dinge vor dem Zugriff schützen, im übrigen aber einen ungetrübten Einblick ermöglichen. Durch eine Scheibe betrachtet scheinen Gegenstände nah und zugleich entzogen, das Glas steigert das Begehren und Wertempfinden des Betrachters. In Vitrinen und Regalen werden Dinge hervorgehoben, deren ursprünglicher Kontext verlorengegangen ist und imstande sind, ehemaliges zu vergegenwärtigen. Fächer dienen dazu, Dinge gleicher Größe oder Zugehörigkeit darin Platz finden zu lassen, sie von anderen zu separieren. Alles muss gehängt, gestellt, bezeichnet und rubriziert werden. In der Kunst verhält es sich nicht anders, ihre Betrachtung folgt Systemen stilistischer oder zeitgeschichtlicher Klassifizierungen. Schränke, Fächer und Schubladen wiederum sind Angebote, die persönliche Habe in ihnen unterzubringen, um sie mit einem Griff wieder hervorziehen zu können. Nichts erscheint unerträglicher als ein leerstehendes Regal. Es wartet förmlich darauf, mit Dingen gefüllt zu werden. Selbst Möbelhändler können nicht darauf verzichten, ihre zum Kauf angebotenen Schrankwände mit Buch- oder Fernsehattrappen zu befüllen.

In Alke Reehs Kastenskulptur bleiben hingegen die Fächer völlig leer, durch die Scheibe versiegelt und damit einer möglichen Aufbewahrung entzogen. Eine herkömmliche Vitrine oder Schrankwand lässt sich öffnen und verschließen, hier ist sie im wahrsten Sinne zweckentfremdet (so wie jede Kunst zweckfrei ist). Indem die Künstlerin die 'Vitrine' unbefüllt lässt, ist das üblicherweise rein zweckdienliche Objekt seiner Funktion beraubt und selbst zu einem autonomen Anschauungsobjekt erhoben. Die Erwartung, in den Fächern präsentierte Dinge ausfindig zu machen, wird enttäuscht und der Blick kehrt sich, wie in den Reflexionen des Glases, um und wird erwidert. Das Regalobjekt selbst schaut den Betrachter gewissermaßen mit seinen 'Augen', den leeren Fächern, zurück. Und wie dieses in Abwesenheit zur Schau gestellter Gegenstände nicht einer Ordnung der Dinge dient, verkörpern ihre Systeme eine je ideale Ordnung an sich.

Die displayhafte, in seiner Dimension fast schreinartige Anmutung des Objekts, von der sich die Künstlerin bei Südamerikareisen möglicherweise durch sakrale Architekturen, Artefakte und Devotionalbehältnisse hat anregen lassen, erscheint in seiner schmucklosen Ausführung allerdings zu nüchtern und rational, um ihm spirituelle Wirkungen zuzuschreiben. Denn zuallererst präsentiert es sich als Ergebnis einer radikalen Reduktion auf elementarste Konstruktionsprinzipien. Gleichwohl erwächst aus dem Widerspruch visueller Offenheit und faktischer Geschlossenheit des Vitrinenobjekts, seiner Dialektik von Transparenz und Hermetik, eine eigentümliche Aura und Geheimnishaftigkeit. Gerade aufgrund seiner vermeintlichen Ähnlichkeit zum Behältnis (Schrank, Vitrine, Tresor) und seinen ungefüllten Hohlräumen (Fächern) wird es unweigerlich zum Imaginationsobjekt individueller Phantasien und Innerlichkeitsträumereien, die Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raumes u.a. mit Schränken, Truhen und Schubladen in Verbindung gebracht hat. Für den französischen Philosophen bestehen vielfältige Entsprechungen zwischen der Geometrie des Kästchens und der Psychologie des Verborgenen: "Das Thema der Schubladen, der Truhen, der Schlösser und der Schränke wird uns immer wieder mit dem unergründlichen Vorrat der Innerlichkeitsträumereien in Kontakt bringen. Der Schrank und seine Fächer, der Schreibtisch und seine Schubladen, die Truhe mit dem doppelten Boden sind wirkliche Organe des geheimen psychologischen Lebens. (...) Im Schrank lebt ein Ordnungszentrum, welches das ganze Haus gegen eine grenzenlose Unordnung schützt. Dort herrscht eine Ordnung, oder vielmehr dort ist Ordnung ein Herrschaftsbereich." Gleichzeitig beschreibt Bachelard, wie sich die von ihm identifizierten Intimitäts- und Erinnerungsnischen als Behausungen der menschlichen Seele die Zerstückelungsdialektiken von Zeit, Raum und Körperlichkeit außer Kraft setzen. "Im Kästchen sind unvergessliche Dinge, unvergesslich für uns, aber auch für jene, denen wir unsere Schätze schenken werden. Die Vergangenheit, die Gegenwart, eine Zukunft sind darin zusammengeballt. Und so wird das Kästchen zum Gedächtnis des Unvordenklichen. (...) Dieser Gegenstand, der sich öffnen lässt, ist das erste Differential der Ent-Deckung. In dem Moment, wo das Kästchen sich öffnet, gibt es keine Dialektik mehr. Das Draußen ist mit einem Zuge ausgestrichen, alles gehört dem Neuen, dem Überraschenden, dem Unbekannten. Das Draußen bedeutet nichts mehr. Und sogar die Dimensionen der Körperlichkeit haben keinen Sinn mehr, weil einen neue Dimension geöffnet worden ist: die Dimension der Innerlichkeit."

Wird also in Alke Reehs Kastenobjekt tatsächlich etwas von jener inneren Unermesslichkeit spürbar, von der Bachelard in der Poetik des Raumes spricht? Steckt in ihm ein ähnliches Diffusionspontential? Ist die widersprüchliche Erscheinungsweise von Offen- und Geschlossenheit der regalartigen Virtine Indiz jener Dialektik des Draußen und Drinnen, die der Philosoph beschreibt? Und wie verhält sich die ostentative Fächerstruktur des Gebildes in Bezug auf entsprechende Denk- und Klassifizierungsschemata? Trifft sie sich gar in der Kritik Bachelards, wonach die „tiefste Metaphysik ihre Wurzel in einer unausgesprochenen Geometrie hat und diese Geometrie – ob man es will oder nicht – den Gedanken verräumlicht“?

Auch fast drei Jahrzehnte nach ihrer Entstehung hat Alkes Reehs Bremer Rauminstallation nichts von ihrer rätselhaften Aura eingebüßt. Im Rückblick betrachtet scheint sie eine Zäsur zu markieren zwischen vorherigen Skulpturen im Außenbereich (wie die Bunker-Installation „Unterwelt“, Hannover 1989) und ihren mobilen und kleinteiligeren Wand- und Bodenarbeiten für den Galerie- und Museumsraum. Dem Prototyp ihrer doppelgesichtigen Fächerkonstruktion sind über die Jahre Objekte und Installationen aus Textil, Papier, Beton oder Kunststoff gefolgt, deren Wurzeln in der Architektur oder Bauornamentik liegen. Alke Reehs plastische Konzeption leitet sich dabei typischerweise aus der Gestaltung von Hohlvolumina, Zellen und Kammern ab, die aus der Durchdringung oder Entfaltung von Flächen entstehen. Das Stehenlassen ihrer Grate garantiert die Statik der Objekte bzw. komplexen Auffächerungen, deren Resultate unterschiedliche Gestalt annehmen und von großen rosettenartigen Gebilden über mäandrierende Bänder bis zu kleinen, asymmetrischen Fragmenten reichen. Gleichzeitig hat sich Reehs skulpturales Konzept etwa durch die Implementierung von Fotografie, Licht und Sound nicht nur medial erweitert, sondern ist auch mit kunstgewerblichen Traditionen wie der Stickerei neue Verbindungen eingegangen. Mit dieser Kontextverschiebung reagiert die Künstlerin auf interkulturelle Transfers, deren Möglichkeiten bereits vor der globalisierten Kunstbetrachtung in ihrem Werk angelegt zu sein scheint. Reehs Enttabuisierung des Ornamentalen rückt sie folgerichtig in den Fokus thematischer Gruppenausstellungen wie Ornamental Structures, die Geringschätzungen als oberflächlich, unkritisch und dekorativ entgegentrat und neue Ambivalenzen bei der Betrachtung serieller Ordnungssysteme in der internationalen Gegenwartkunst ins Feld führte. Vor allem scheut die Künstlerin nicht das Experiment, mit verschiedenen Techniken und Materialien ungewöhnliche Medientransformationen vorzunehmen. Somit scheint das anfänglich stark installative Moment ihrer Arbeit in jüngerer Zeit gleichsam vagabundierenden Aspekten zu weichen. Architekturdetails wie eine Betondecke oder ein Maßwerk werden disloziert und durch Reinszenierung (Freistellung) als Bild wahrgenommen. In wechselseitigen Transfers vom Gebauten und Festgefügten zum nachgiebig Leichten (und umgekehrt) nimmt Alkes Reehs Schaffen vielgestaltige Formen der Umhüllung an – als Behausung, Kleidung oder Gefäß. Verglichen mit der Bremer Installation von 1993 sind bei ihren jüngeren Arbeiten die Grenzen von Drinnen und Draußen noch durchlässiger geworden, in ihren verschachtelten Nomadenzelten – Symbol für Nichtsesshaftigkeit und Migration – werden sie zu hauchdünnen Membranen, die den Beherbergten allenfalls minimalen Schutz bieten.