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Mehr Achtsamkeit für die Essenz der Erscheinungen

Friederike Fast Marta Herford

Mit dem Origami-Prinzip wurde vor fast 2000 Jahren in Asien eine Kulturtechnik geschaffen, für die die Natur als Vorlage diente: Ganz gleich ob bei Blütenknospen, Flügeln, dem Gehirn oder der DNA – durch Faltungen, Biegungen oder Knautschungen werden auch in der Natur Oberflächen auf eine Weise komprimiert, dass ein komplexes räumliches Konstrukt entsteht. Die japanische Bezeichnung für die Technik das Origami, die sich aus den Begriffen oru (= falten) und kami (= Papier) zusammensetzt, hat sich im 19. Jahrhundert auch in Europa verbreitet, als die ursprüngliche, eher religiös-zeremonielle Funktion des Papierfaltens mehr und mehr einem Unterhaltungswert dieser Tätigkeit gewichen war.

Heute ist das Origami-Prinzip jedoch längst nicht mehr nur ein Zeitvertreib, sondern es findet gleichermaßen Anwendung in Wissenschaft und Technik wie in Architektur, Design oder in der Kunst. So bedient man sich ihrer, um große Sonnensegel im All ebenso wie mikroskopisch kleine Roboter zu konstruieren, die im Bereich der Bionik in den menschlichen Körper eingeführt werden, um sich dort zu entfalten und Medikamente gezielt zu einem bestimmten Ort zu transportieren. In der Kunst wird dieses Prinzip verwendet, um – anders als in der klassischen Skulptur nicht durch Hinzufügen und Wegnehmen, sondern z.B. durch den Einsatz einer Berg- und Talfalte – ein Innen und Außen zu erzeugen.

Viele Arbeiten von Alke Reeh basieren ebenfalls auf dem Prinzip der Faltung von Flächen oder der Verschränkung von Formen. Während das Origami-Prinzip in technischen Bereichen oftmals dazu genutzt wird stabile Formen zu entwickeln, die wie im Flugzeugbau extreme Lasten aushalten können, wirken die Skulpturen von Alke Reeh eher instabil. So bestehen die rosettenförmigen Strukturen oder kassettenförmigen Felder von Decke genäht (seit 2009) aus Textilien, die sonst bei Zelten oder Sitzpolstern zum Einsatz kommen. Auch sie erinnern an Naturformen wie Pflanzenteile oder Fledermausflügel. Obwohl sie sich als klar konturierte Reliefs von der Wand erheben, besitzen sie eine gewisse Beweglichkeit und Wandelbarkeit, da sie mit ein paar Handgriffen zusammen- und wieder auseinandergefaltet werden können. Auch die Objekte selbst wirken auf lapidare Weise unabgeschlossen – so wurden die Fäden nicht vernäht, sondern hängen deutlich sichtbar am Objekt herunter. Daher stellen sich rasch auch Assoziationen zu drapierten Stoffen, Röcken und kunstvollen Fächern ein. Unverhohlen schlägt die Künstlerin die Brücke zwischen freier und angewandter Kunst. Jedoch wohnt diesen textilen Skulpturen ein Funktionspotential (ähnlich dem alltäglicher Gebrauchsgegenstände) inne, das jedoch nicht am Objekt praktisch erfahrbar ist, sondern – wie es in erster Linie für die Konzeptkunst charakteristisch ist – vor allem im Kopf der Betrachter*innen stattfindet. 

Das Handwerk spielt bei zahlreichen Arbeiten der Künstlerin eine zentrale Rolle, so hat sie in Einblick – Ausblick (eine Reihe, die seit 2009 in loser Folge entsteht) Fotografien mit ornamentalen Stickereien versehen, die an Vorhänge oder Paravents erinnern. Dahinter verbirgt sich eine Welt, die mal bekannt und mal eher exotisch anmutet – Fassaden, die deutliche Spuren des Alterns oder der Zerstörung aufweisen wie man sie eher in asiatischen oder afrikanischen Ländern findet, stehen Ansichten deutscher Reihenhaussiedlungen gegenüber. Doch indem der direkte Blick jeweils auf ganz ähnliche Weise verstellt wird, erscheint auch das Eigene plötzlich fremd. Grade mit dieser parallelen Verschleierung der verschiedenen Orte fordert Alke Reeh die Betrachter*innen auf, genau hinzusehen und eingefahrene Wahrnehmungs- und Denkmuster zu hinterfragen. So erinnert auch der Blick durch die Antwerpener Spitze plötzlich an die traditionellen dekorativen Holzgitter, sogenannte Maschrabiyya, wie sie in der islamischen Welt in Moscheen, Palästen, aber auch bei Wohnhäusern zu finden sind. Und wenn sie eine banale Plastiktüte von – vornehmlich männlichen – Handwerkern aus verschiedenen Ländern mit aufwändigen, traditionsreichen Stickereien verzieren lässt, dann bricht sie auch mit gängigen Zuschreibungen und Rollenbildern in Arbeits- und Produktionszusammenhängen.
Tatsächlich kommen Ornamente in allen Ländern der Erde vor und sie können insofern auch als Symbol für komplexe kulturelle Transferprozesse zwischen den Kulturen verstanden werden. Ganz gleich ob verschlungene Arabesken oder der streng geometrische Mäander – ebenfalls oftmals inspiriert durch die Formen der Natur, waren sie ursprünglich in ihrer abstrahierten Form zumeist Ausdruck einer Suche nach einer allumfassenden, kosmischen Ordnung. Ornamente übernehmen aber nicht nur in sakralen Zusammenhängen eine zentrale Rolle, sondern finden als Dekor auch in alltäglichen Kontexten Verwendung. Gerade dieses Spannungsfeld – zwischen philosophisch-religiöser Symbolik, handwerklicher Tradition und platter Oberfläche des schönen Scheins – war es, das im Zuge der Moderne auch ihre Kritiker auf den Plan rief: So bezichtigte Adolf Loos 1908 das Ornament des Verbrechens, um ihm eine schmucklose, funktionalere Formensprache entgegenzusetzen. Zeitgleich gab es aber auch Künstler wie Karl Blossfeldt, die die Tektonik natürlicher Formen in den Fokus stellte. Mit seinen starken fotografischen Vergrößerungen von Pflanzen, die wie archaische Totems oder Architekturen wirken, begründete der Bildhauer und Lehrer eine Schule des Neues Sehens. Die Fotografien, die vorerst als didaktisches Mittel dienten, um seinen Student*innen die Natur als Lehrmeisterin für Kunst und Technik vorzustellen, wurden mit der Ausstellung des Berliner Galeristen Karl Nierendorf, der die Aufnahmen mit Plastiken aus Afrika und Neuguinea konfrontierte, sowie durch die Veröffentlichung des Buches Urformen der Kunst (1928) plötzlich als autonomes Kunstwerk gehandelt, das den überreichen Formenschatz der Natur präsentiert, um eine neue Aufmerksamkeit für die Welt der Erscheinungen zu schärfen.
Wenn Alke Reeh nun an diese lange, internationale Tradition des Ornaments – sowie der kritischen Auseinandersetzung damit – anknüpft, dann geht es ihr weniger darum, die Schönheit des Ornaments zu feiern, es geht ihr auch nicht nur darum, eine bestimmte Art der globalen Migration der Formen₁ bewusst zu machen, sondern vor allem darum, die Sinne zu schärfen. Für ihre Ausstellung in Backnang nimmt die Künstlerin daher auch den Ausstellungsraum als Ausgangpunkt, um einen sinnvollen Dialog zwischen dem vorhandenen Ort und den Arbeiten entstehen zu lassen. Indem sie mit ihren rosettenförmigen Nähungen die Struktur der gotischen Kirchenfenster aufgreift oder bei within the realms of possibility (2016) wie in einer barocken Trompe-l’œil-Malerei eine Illusion von Raum erzeugt, wobei sie die gefaltete Fotografie von einer Deckenstruktur mit einem Spiegel optisch verdoppelt, spielt sie mit der Wahrnehmung der Besucher*innen, um eine Sensibilität für den sehr spezifischen Raum zu schaffen. Die historisch gewachsene, ungewöhnlich verschachtelte Architektur der Galerie der Stadt Backnang tritt besonders zu Tage, wenn die Künstlerin eine wuchernde Struktur rhizomartiger, ebenfalls spiegelnder Raumpuzzles präsentiert oder den Unterschied zwischen starrer Ordnung und einer zufälligen Sammlung am Beispiel einer regalartigen Raumtrenners vor Augen führt. Auf diese Weise nimmt die Künstlerin die Betrachter*innen mit auf ihre Forschungsreise, bei der sie spielerisch-lustvoll Formen analysiert und Flächen weiter denkt, um eine neue Achtsamkeit für die Essenz von Erscheinungen (Alke Reeh) in der Welt zu entwickeln.

₁ Die Migration der Form ist ein Begriff, mit dem die Kurator*innen der documenta 12 in Kassel auf formale Ähnlichkeiten auf inhaltliche Korrespondenzen zwischen Werken aus verschiedenen kulturellen, geografischen und zeitlichen Kontexten hinweisen wollten. Siehe dazu auch: DOCUMENTA 12 – Die Migration der Form, von Roger M. Buergel, FAZ, aktualisiert am 23.04.2007, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/documenta-12-die-migration-der-form-1435445-p3.html; abgerufen am 7.7.2019.