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Einführung in das Werk von Alke Reeh

Dr. Barbara Könches anlässlich der Ausstellung Neersen 2013

Der ein oder andere mag sich gewundert haben, als er den Raum hier betrat. Dort wo üblicherweise Gemälde hängen, sieht man nichts, die Wände sind leer. Dort wo man in vorangegangenen Ausstellungen Skulpturen anschaute, blieb der Raum auch leer und in den Vitrinen, die eigens für diese Ausstellung aufgestellt wurden, sieht man leere Schachteln. Was soll das?

Bleiben wir zunächst bei den kleinen Schächtelchen, Döschen und Kartons. Eine kleine Mulde im dunklen Taft erinnert an den Inhalt, der dort lagerte. Es muss etwas Wertvolles gewesen sein, sonst hätte man sich nicht den Aufwand der Verpackung gemacht. Was immer es gewesen sein mag, wir können es nur noch durch unsere Interpretation zurück gewinnen. Erfahrung und Phantasie suggerieren uns Bilder von hartem, glänzendem Metall auf schwarzer Seide oder von in Gold gewickelten Pralines auf rotem Stoff.

Und während wir die inneren Bilder hervorzaubern, verliert sich unsere weit schweifender Blick zur Decke. Dort finden wir das eigentliche Werk Decke für Neersen, das Alke Reeh für diese Ausstellung angefertigt hat.

Das Werk in situ – wie man das spezielle künstlerischen Arbeiten für einen bestimmten Ort nennt – charakterisiert die Vorgehensweise von Alke Reeh. Sie ist keine Künstlerin, die zuhause eine Serie von Seerosen malt, sondern sie ist eine Architektin, eine Ingenieurin und Technikerin, deren Kunst sich als Auseinandersetzung mit dem gebauten Raum ergibt. Ihre besondere Begabung ist es, die physikalisch-geometrischen Kräfte innerhalb eines gebauten Raumes in ihrer Wirkung als Zug- und Druckkräfte zu erkennen. So entstehen die ersten Skizzen und Überlegungen aus dem Zusammenspiel von konstruktiven Linien, die eine Form beschreiben und einen geometrischen Körper bilden. Aber diese Gebilde sind im Gegensatz zu den gemauerten Räumen, Häusern und Straßen nicht aus Gips, Stein oder Beton, sondern Alke Reeh beginnt hier ein komplexes Spiel mit Materialien, die fließen und erstarren, mit ornamentalen Streben und luftigen Seilen, mit gewebten Deckengewölben und gehäkelten Gitterstrukturen.

Diese Kombination zwischen harten und weichen Grundmaterialien wie die Kombination von Stein und Stoff oder von Gitter und Garn ist nicht ungefährlich, denn es bringt ein Modell ins Schwanken, dass seit über 2000 Jahren, die harten Materialien wie Stein und Beton den männlichen Tätigkeitsfelder wie Architektur und Statik zuschreibt. Die weiblichen Materialien wie Stoff und Garn jedoch für die weiblichen Beschäftigungen oder auch Beschäftigten vorsieht. Alke Reeh kritisiert und hinterfragt diese kulturelle Tradition nicht lange, sondern sie setzt das System selbstbewusst und sicher außer Kraft. Deckengewölbe werden gestickt und Haremsfenster gehäkelt. Weibliche Anarchie kommt sanft daher und begibt sich in die Gefahr wieder als typisch weibliche Handarbeit eingestuft zu werden.

Aber wer das tut, der entblößt sich selbst als chauvinistische voreingenommen. Die stählernen Wände eines Richards Serras werden als künstlerisches Spiel physikalischer Kräfte wahrgenommen und das Ausbalancieren der wuchtig schweren Massen als Materialexperiment. Nichts anderes unternimmt Alke Reeh, aber sie hat die Vorzeichen in der Arbeit vertauscht: der instabile Stoff ersetzt den Stahl und die Frage ist nicht die nach dem Formerhalt, sondern die nach der Formaufhebung. Wann verliert eine geometrische Faltung ihre Struktur? Wie beeinflussen Ornamente die Wahrnehmung von Stabilität? Welche Struktur wirkt hart oder weich, abstoßend oder anziehend?

Alke Reeh wagt es mit ihrer Kunst aber nicht nur, gegen die Regeln einer männlich geprägten Kunst zu verstoßen, sondern sie nimmt den Kampf gleich gegen das ganze Abendland auf, verstößt sie doch gegen das 1908 von Adolf Loos erlassene Diktum Ornament und Verbrechen. In dem Essay gleichen Namens kritisierte Loos den seinerzeit aktuellen Jugendstil, beschimpfte das Kunsthandwerk als überflüssig und verschmähte das Ornament als evolutionär überholt. Zweifelsohne schuf Loos damit das theoretische Fundament der Moderne.

Es dauerte fast hundert Jahre bevor diese Theorie ins Wanken geriet und außereuropäische Ästhetik nicht länger als unzivilisiert galt. Erst allmählich wird das Ornament von einem breiteren Publikum wieder neu entdeckt und in die Kunst reintegriert.

Alke Reeh ist seit Kindesbeinen an eine Reisende. Schon früh lernte sie in den Familienurlauben in Syrien, im Jemen oder in Ägypten den Gestaltungsreichtum anderer Kulturen, Religionen, anderer Ethnien und Nationen kennen. Die reich verzierten Moscheen und kunstvoll gewebten Teppiche des arabischen Raumes lehren den Betrachter nicht nur Demut, sondern auch Toleranz.

Auch diese Komponente finden Sie im Werk von Alke Reeh wieder: Das Zusammenspiel von Motiven und Stilen aus unterschiedlichen Regionen der Welt. Und auch hier sind es keine intellektuell-trockenen Analysen, welche die Künstlerin anfertigt, sondern mit einem enormen Vorrat an Stil-Referenzen und mit handwerklicher Begeisterung näht sie Deckengewölbe, die später aus Stoff an der Wand hängen anstatt aus Mörtel und Gips gefertigt den Raum nach oben abzuschließen. Oder wie heute zu sehen, umkleidet sie die feste durch Einbauten, Technik und Facetten geprägte Decke durch eine hängende Stoffkonstruktion, die uns, dem Betrachter, den Eindruck vermittelt, etwas verloren zu haben. Vergleichbar der Schachteln in den Vitrinen, erwartet man einen edlen Inhalt, der die Mulden und Vertiefungen ausfüllt.

"Leichtigkeit des Erfassens muß verbunden sein mit Leichtigkeit der Konstruktion – zum Herstellen eines inneren Modells für die Regelung unserer Erwartungen", schreibt Ernst H. Gombrich in seiner grundlegenden Analyse Ornament und Kunst, durch die das Ornament 1979 zum ersten Mal den Versuch einer Rehabilitation erlebte. Er fährt fort: Der dekorierte Gegenstand, ein Gebäude oder eine Schachtel, steht irgendwo zwischen diesen Extremen. Unsere Erwartungen werden zutreffen, soweit es sich um die Form im allgemeinen handelt, aber innerhalb dieses allgemeinen Umrisses angenehm enttäuscht werden durch die Verschiedenheit der künstlerischen Behandlung.₁ Lassen Sie sich durch die Arbeit von Alke Reeh anregen, Struktur und Ornament dort zu erkennen, wo kein Baumeister sie geplant hat, sondern wo alltägliche Technik sie hinterlassen.

₁(S. 22, Stuttgart 1982)